Mit dem Fahrrad von Karl-Marx-Stadt  an die Ostsee 1983

Es war der letzte Sommer nach dem Abi.

1983 oder besser im Jahre 17, vor Internet und Smartphone, sah die Welt noch anders aus. In dieser Zeit war die Wirtschaft noch regionaler, der Arbeitsweg noch kurz und der Verkehr deutlich weniger. Jeder Ort hatte einen Tante Emma Laden und Ladenschluss war Sonnabend um 12Uhr. An den Tankstellen gab es Kraftstoffe, niemand wäre auf die Idee gekommen an einer Tankstelle Lebensmittel zu besorgen. Dafür hatte aber auch jeder noch so kleine Ort eine Kneipe in der es neben rosa Brause und Bier wenigstens Schnitzel mit Brot gab.
Der Verkehr schlief am Freitag um 18Uhr ein und erwachte am Montagmorgen um 5Uhr wieder. Auf den Fernverkehrsstraßen waren an den Wochenenden kaum Autos unterwegs. Der Straßenbelag hatte alles zu bieten was zwischen Feldsteinstraßen, aus Kaisers Zeiten, und neuem Asphaltbelag verbaut wurde, und das in unterschiedlichen Abnutzungszuständen.
Versorgungsprobleme oder chaotische Verkehrssituationen waren also nicht zu erwarten.
Das Fahrrad wurde für diese Tour in ein Rennrad umgebaut. Es war ein Fehler.
Das handelsübliche Trekkingbike hieß damals noch Sportrad und hatte eine 3 oder 4 Gangschaltung. Mit einer  8-Gang Schaltung (2x4) wurde das Fahrrad aufgerüstet und mit Schlauchreifen und Rennlenker versehen. Die Schlauchreifen führten zum ersten Kopfschütteln der älteren Generation. Diese Reifen waren sündhaft teuer und kosteten, damals, nach jetzigem Geld 75 Euro. Die Schlauchreifen hatten eine sehr geringe Lebenserwartung und mussten auf der Felge aufgeklebt werden. So musste auch Klebstoff mit genommen werden. Aber dieser Reifen war angesagt, weil er ein paar Gramm leichter war. Auf den Gepäckträger und Schutzbleche wurde auch verzichtet, weil dieses Zubehör ja viel zu viel Gewicht hatte. Die Utensilien für die Nacht und das Notwerkzeug musste in einer Schultertasche verstaut werden. Diese Tasche war elende schwer.
Die Streckenplanung war sehr einfach. Auf einer 1:300.000 Karte wurde die kürzeste Strecke nach Norden herausgesucht.

Gestartet wurde mit der Sonne gegen 4Uhr. Das Ziel für den ersten Tag war: nördlich von Berlin.
Eine Entfernung von etwa 250 km für den ersten Tag war zu fahren. Bis dahin war die längste geradelte Strecke etwa 70 km. Es gab keine Erfahrungen mit weiten Strecken.
Kurz nach dem Start streifte eine Gewitterwolke unsere Strecke. Wir hatte panische Angst mit durchnässter Bekleidung weiterzufahren, weil wir befürchteten den Hintern mit den nassen Hosen wund zu scheuern.
Also wurde nacked im Wald abgewettert um nach dem Gewitter wieder mit trockener Bekleidung weiter zu radeln.
Die Fahrt verlief unaufgeregt. Die Gegend, immer noch sächsisch, war vertraut und die Straße hatte die letzte Instandsetzung lange hinter sich. Der Autoverkehr war nahe Null und so machte es nichts aus um die Straßenlöcher zu kurven.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den ersten 100 km lag bei 30 km/h. Es ging richtig gut vorwärts.
Das Hunger- und Durstgefühl wurde übergangen und war auch erst Mal weg.
Das Kraft eingeteilt werden muss und die Maschine Mensch auch einen Energiebedarf hat, war nicht unbekannt. Nur die Erfahrung dazu fehlte.
Irgendwann gegen Mittag gab es in einer Kneipe an der Straße Mittagessen. Ein Schnitzel mit Ei und Bratkartoffeln und rosa Brause. Nach dem Essen ging es wieder besser. Eine Radlergruppe mit voll bepackten Rädern wurde überholt, die als elende langsam eingeschätzt wurde. Eine Stunde später gab es wieder rosa Brause.
Beim Besteigen der Räder, nach der kurzen Pause, war die elende langsam fahrende Radfahrergruppe einige Meter an uns vorbei gefahren und wurde sofort mit einem Sprint deklassiert.
Dieses Wechselspiel wiederholte sich eine Stunde später nochmal. Dann wurde die Gruppe nicht mehr gesehen.
Die Geschwindigkeit wurde langsamer und normalisierte sich etwas.
Der Riemen der Schultertasche riss und musste geflickt werden. Für dieses Gewicht war die Tasche nicht ausgelegt.
Unbemerkt war das Brandenburgische erreicht worden. Damals noch Bezirk Potsdam. An der linken Straßenseite verlief ein langer Bretterzaun mit der Aufschrift F R E I B A D. Es war die Gelegenheit für eine nachmittägliche Auszeit, eine Stunde Schlaf und Bockwurst und Brötchen.
Mit der Nähe zu Berlin änderte sich die Landschaft. Kiefern und Sand riechen immer so nach Sommerferien und Urlaub.
Es gab noch eine andere auffällige Veränderung. Die in die Jahre gekommene Bebauung in der Einheitsfarbe grau wurde gelegentlich durch helle Neubauten aufgehübscht. Leider waren diese Neubauten militärische Gebäude. Militärische Bauten waren immer zu erkennen. Und ich habe gedacht: Schön, das ich bei der Armee studieren werde, da ist wenigstens die Studienumgebung neu und sieht nicht aus wie das Einheitsgrau. Mit etwas Abstand betrachtet doch sehr flach gedacht.
Die Straße war generalsaniert. Eine ebene glatte lochfreie Piste, sehr schön zum schnellfahren. Am Ortseingang änderte sich der Fahrbahnbelag auf "kaiserliches Kopfsteinpflaster".
Diesen Übergang hatte der Schlauchreifen nicht überlebt. Eine 20 min Pause war nötig. Schlauchreifen abreißen, Klebstoff auftragen, neuen Schlauchreifen aufziehen, aufpumpen kurz warten und weiter.
Die 1-Stück Reserve war aufgebraucht und eine erneute Panne hätte das Aus bedeutet. Ein Reparatur wäre einfach nicht möglich gewesen mit diesen Scheiß-Reifen!!!
Nach der Tour habe ich beiden Laufräder mit allen Schlauchreifenresten an einen Unwissenden verkauft.
Die Sonne stand schon nicht mehr so hoch am Himmel. Die Geschwindigkeit war so bei 10 km/h angekommen und es war Zeit für das Ende der Etappe.
Kyritz, Gasthof:
Schnitzel, Bier, bezahlen gleich mit Übernachtung.
Ohne Frühstück?
Ja, es soll gleich ganz früh wieder weiter gehen.
Dann ist es etwas billiger.
Schön.

Schlafen.

Gestartet wurde sehr früh, aber später als 4Uhr. So zeitig wie am ersten Tag ging nicht.
Irgendwie hatte ich Probleme beim Sitzen auf dem Sattel. Es tat höllisch weh. Immerhin konnte ich kurz im Stehen fahren, aber das war auch nicht wirklich schön.
Ein Sub-Mini-Handtuch habe ich in die Radhose gelegt, aber das wollte auch keine Verbesserung bringen. Mit zusammengebissenen Zähnen 2 km im Sattel durchhalten betäubt vermutlich die Nerven und es ging flüssig weiter durch den Norden.
Die Mecklenburgische Schweiz mit ihren flachen Hügelchen war keine Herausforderung. Mittags gab es wieder das Schnitzel. In der Kneipe war der Frühschoppen gerade im abklingen. Irgendwoher kam die Frage:
Wo kommt denn ihr her?
Na von Süden.
Über den großen Berg?
Wo ist denn da ein Berg?
Irgendwie konnten wir uns erinnern ein Schild mit dem Zusatzzeichen 4% gesehen zu haben. Die Wahrnehmung von Geländesteigungen ist regional recht unterschiedlich ausgeprägt.

Um unsere Trinkflaschen auf zu füllen sprachen wir meistens Laubenpieper in ihren Gärten am Straßenrand an.
Einige füllten schweigend die Flaschen mit Leitungswasser, andere lehnten den Freundschaftsdienst sehr brüsk ab, und die schönste Flaschenfüllung gab es nach einem kurzen Gespräch:
Wo kommt ihr den her?
Aus Karl-Marx-Stadt.
Als Jugendliche sind wir auch mit dem Rad weit gefahren. Kommt doch mal rein, ich habe Kaffee und Kuchen....

Kurz vor dem Ziel gab es noch einen Fast-Unfall. Recht ermüdet auf den letzten Metern streifte das Vorderrad des Mitfahrers mein Hinterrad. Dieser schoss quer über die Gegenfahrbahn zwischen zwei entgegenkommenden Autos hindurch die Böschung hinauf.
2 km später waren wir am Ziel, aber eigentlich war der Weg das Ziel.

Es ist erstaunlich an wie viel Kleinigkeiten man sich nach über 35 Jahren erinnert...
Viele Grüße an Erbse.
Rennrad
so sah das Rad aus, auch wenn das Foto nicht das Original zeigt


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